"Leben in Zeitenwende, die man richtig deuten und gestalten muss"

Die iv-positionen haben mit Christian C. Pochtler, Präsident der IV-Wien, über ein ereignisreiches erstes Jahr als IV-Wien-Präsident gesprochen – Zeit für einen Rückblick und Ausblick:

Sie sind nun über ein Jahr Präsident der IV-Wien. Was können Sie rückblickend über dieses Jahr im Amt sagen?

Es war ein in jederlei Hinsicht außergewöhnliches Jahr, in dem viele Themen im wahrsten Sinne virulent geworden sind, die uns alle bewegen und unsere volle unternehmerische Kraft erfordern.

Es war jedenfalls auch ein Jahr der großen Veränderungen und Weichenstellungen: Den Anfang machte die neue Regierungskonstellation, es folgten eine epochale Pandemie inklusive Wirtschaftskrise, eine Neubesetzung der IV-Präsidentschaft auf Bundesebene und schließlich eine richtungsentscheidende Wahl in Wien. Wir leben also in mehreren Punkten in einer Zeitenwende, die man richtig deuten und unternehmerisch gestalten muss.

Welche Rolle hat die Industrie dabei eingenommen?

Am Beginn meiner Präsidentschaft stand die Bildung einer neuen Bundesregierung, in der erstmals auch die Grünen mit an Bord sind, im Mittelpunkt. Mit diesem frischen Wind auf Bundesebene wurden nun Themen wie Umweltschutz und Digitalisierung höher priorisiert, was für die Wiener Industrie von größter Bedeutung ist. Mein Fokus lag von Anfang an darauf, Wien, zusätzlich zu den bekannten und allseits geschätzten Attributen Kunst, Kultur und beste Lebensqualität, noch viel stärker auch als Technologie- und Life-Science-Standort zu positionieren. In diesem Jahr wurden dazu wichtige Weichen gestellt, etwa mit dem überfälligen Ausbau der 5G-Infrastruktur und der angekündigten Milliarden-Investition in Cloud-Infrastruktur in Österreich.  

Die Industrie ist Problemlöserin nicht nur in Sachen Klima und Digitalisierung, sondern auch bei Lebensqualität und Gesundheit. Das ist gerade in der COVID-Krise noch klarer geworden. Die in Wien entwickelte Gurgellösung für COVID-Tests und das verbesserte RT-Lamp-Verfahren sind nur zwei aktuelle Beispiele unserer Forschungskraft im Life-Science-Bereich. Aber natürlich war dieses Jahr auch extrem fordernd, einerseits in meiner Rolle als Eigentümer eines international agierenden Technologieunternehmens, andererseits mussten wir auch intensiv überlegen, wie wir als Industrievertretung agieren, um den Standort nachhaltig zu sichern.

Wodurch unterscheidet sich diese COVID-Krise von vorherigen Krisen?

Diese Krise zeichnet sich dadurch aus, dass sie wahrhaft global ist und wir zur selben Zeit eine schwere Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialkrise erleben. Und noch dazu verbietet sie uns, genau jenes Verhalten, das wir zur Krisenbewältigung als Menschen am dringendsten brauchen: näher zusammenzurücken, menschliche Wärme, Vertrauen zueinander und auch ein wenig Ablenkung und gemeinsam feiern.

Was bedeutet das konkret für die Industrie?

Unsere Unternehmen haben in den vergangenen, sehr herausfordernden Wochen und Monaten alles darangesetzt, den Arbeitsalltag sowie die Arbeitsabläufe weiter zu digitalisieren, durch Homeoffice Abstand zu halten und die Arbeitsplätze in den Produktionsbereichen so sicher wie möglich zu gestalten. Fehlenden Umsätzen wurde dabei häufig auch mit dem Modell der Corona-Kurzarbeit begegnet. Ein besonderes Augenmerk lag natürlich auf der Aufrechterhaltung der Lieferketten. Zudem hat sich das Hochfahren von Produktionen häufig schwieriger und komplexer gestaltet als das Herunterfahren im März. Den mentalen Zusammenhalt sowie einen gemeinsamen „Spirit“ sicherzustellen, ist in Zeiten des physischen Abstandshalten eine der wichtigsten Führungsaufgaben. Nun sind wir alle damit beschäftigt, unsere COVID-Learnings abzugleichen und die neuen Perspektiven und Spielregeln für die kommenden Jahre festzulegen.

Wo sollte die Politik Akzente und konkrete Maßnahmen setzen?

Auch die Politik muss ihre COVID-Learnings machen und eine neue Standortbestimmung vornehmen. Die stärkere Rolle des Staates sollte sich dabei aber ausschließlich auf das akute Krisenmanagement beschränken, danach sollte sich der Staat wieder auf die Rolle als Rahmengeber und Standort-Enabler zurückziehen. Strukturelle Reformen im Gesundheitswesen und eine Pensionsreform sollten gerade jetzt angegangen werden. Die Krise hat gezeigt, dass nur eine funktionierende Marktwirtschaft und Unternehmertum Arbeitsplätze schaffen und sichern. Hier verbesserte Rahmenbedingungen - nicht langfristige Subventionen und Alimentierungen - zu bieten, ist mehr denn je das Gebot der Stunde. Dazu gehören deutliche steuerliche und abgabenmäßige Verbesserungen im Bereich der Arbeit (Kalte Progression abschaffen!), um den Konsum wieder anzukurbeln. Auch im Bereich der Unternehmenssteuern und Entbürokratisierung ist weiter großer Handlungsbedarf gegeben. Wir haben in der Krise gesehen, dass Geld und Finanzierung vorhanden sind – dieses Geld nun aber bitte klug und nachhaltig in die Zukunft investieren, insbesondere in Digitalisierung, F&E, neue Technologien etc.!

Und ja, die Klimakrise ist auch noch immer da und erfordert unsere volle Aufmerksamkeit. Ökologisch und ökonomisch handeln zugleich, das ist unsere Herausforderung und Verpflichtung für die Zukunft!

Wie geht es jetzt nach der Wien-Wahl weiter und wo sollte man am dringendsten in Wien ansetzen?

Die COVID-Krise hat viele zum Überdenken von eingefahrenen Positionen aufgefordert. Jetzt zeichnet sich auch in Wien eine neue, noch nicht erprobte Konstellation ab. Die Wiener Industrie mit der neuen Regierung wird sicherlich die exzellente Zusammenarbeit, die gerade in den vergangenen Monaten eine sehr enge und sehr gute war, fortsetzen. Wir müssen in Zeiten des Lockdowns zudem sicherstellen, dass Industrie, aber auch Tourismus, Kunst- und Kulturinfrastrukturen nicht nachhaltig, gar für immer zerstört werden. Hier sollte das Gesundheitsmanagement noch mehr auf die verantwortliche Eigeninitiative der Unternehmen und Organisationen setzen. Wichtig ist jedenfalls die Intensivierung von Monitoring und Screening mit schneller Erfassung, wie etwa im Rahmen der „Vienna COVID-19 Diagnostics Initiative“ und einer Ausweitung auf die Betriebe. Dazu gehört auch die rasche Zulassung von schnellen, günstigen Tests, die in Eigenverantwortung durchgeführt werden können.

Die Industrie schaut auf viele Boom-Jahre zurück – heuer läuft es alles andere als gut. Wie zuversichtlich sind Sie für die Zukunft?

Krisen gehören zum wirtschaftlichen Leben ebenso wie die Erfolge. Krisen lehren uns auch, was wir anders und besser machen können. Und würde ich nicht optimistisch in die Zukunft blicken, wäre ich nicht Unternehmer geworden!