Schon vor der Wahl zeigten Umfragen, dass eines der Hauptmotive vieler Wählerinnen und Wähler die große Unzufriedenheit sein würde: Eine große Mehrheit war und ist der Meinung, dass sich unser Land in vielen Bereichen nicht in die richtige Richtung entwickelt habe. Sowohl die Verluste von ÖVP und Grünen als auch ein Teil der Zuwächse bei der FPÖ sind eben darauf zurückzuführen. Deutlich wurde durch diese Wahl aber auch, dass ideologisch getriebene und populistische Träumereien in der Bevölkerung nicht ankommen: Dass etwa der Ruf nach neuen Steuern keine Wähler brachte, ist kaum verwunderlich – lehnten doch vor der Wahl je nach Umfrage 70 bis 80 Prozent (!) der Befragten neue oder höhere Steuern ab.
Die Wahlen sind also geschlagen, der Souverän hat gesprochen. Jetzt muss jede Partei den „Wählerwillen“ interpretieren – und dann wird es erst so richtig schwierig, gemeinsame Schnittmengen zwischen den möglichen Koalitionspartnern zu finden. Und das nach einem intensiven Wahlkampf, in dem viel Porzellan zerschlagen worden ist. Politische Akteure haben sich zu oft in ihren ideologischen Sandburgen de facto eingegraben, viel zu viele Forderungen wurden als „unabdingbar“, „rote Linien“ oder „Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit“ schon vor der Wahl festgelegt. Das war vielleicht etwas kurzsichtig, denn es war ja klar, dass keine Partei allein eine absolute Mehrheit erreichen würde.
Jetzt beginnt also die Zeit, wo man wieder aufeinander zugehen sollte, um Kompromisse zu finden. Genau da wird es aber haarig: So wichtig es ist, gemeinsame Schnittmengen in einzelnen Themen zu finden – am Wort „Kompromiss“ klebt zumindest in der heimischen Politik ein leichter Mief vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ und damit von Stillstand. Und diesen kann inmitten einer tiefen Rezession ja wirklich keiner wollen. Was also sollte jetzt passieren?
Notwendig wäre eine Koalition der „Vernünftigen“ – eine Chance darauf gibt es aber wohl nur, wenn alle Parteien bereit sind, faktenbasiertes Handeln über ideologisches Wunschdenken zu stellen. Die Bevölkerung hat gewählt und dabei klare Signale ausgesandt. Sind diese angekommen? So wie bisher einfach weitermachen – das wurde offenbar gar nicht gewollt, also muss sich jedenfalls etwas ändern. Dazu ein spannendes Detail, wieder aus Umfragen schon vor der Wahl: Einer Mehrheit in Österreich ist sehr wohl bewusst, dass wir sparen müssen, dass das Budget mittlerweile aus dem Ruder gelaufen ist.
Klar kann man da einwenden: So was sagt sich immer leicht, aber wenn es dann um Konkretes geht, um Dinge, die die Menschen direkt betreffen, dann ist die Meinung eine ganz andere. Stimmt schon – dennoch war der Zeitpunkt, den Menschen auch unangenehme Wahrheiten zuzumuten, wohl kaum je besser als jetzt. Die Wahl hat zudem gezeigt, dass ideologisch aufgeladenes Wunschdenken auch nicht mehr bei allen ankommt – und wäre es nach den ideologisch aufgeladenen Debatten des Wahlkampfs nicht erfrischend, wieder zu einer rein faktenbasierten Debatte zurückzufinden?
Es braucht einen Kassasturz. Wir müssen einmal feststellen: Was können wir uns überhaupt leisten? Welchen Spielraum hat eine zukünftige Bundesregierung überhaupt – und was muss die erste Priorität haben, was die zweite; und so weiter. Klar ist vor diesem Hintergrund jedenfalls auch: Es wird vermutlich keine schnelle Regierungsbildung geben. Damit geht wieder viel Zeit ins Land, ohne dass entscheidende Hebel umgelegt werden, um Österreichs angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit wieder auf Vordermann zu bringen.
In unserer Vorstandssitzung der IV-Wien im September haben wir über viele dieser Themen intensiv diskutiert. Ein zentraler Punkt, der immer wieder angesprochen wurde, war, dass möglicherweise in Österreich – und zwar sowohl von der Bevölkerung als auch von der Politik – noch zu wenig Leidensdruck empfunden wird, damit sich wirklich etwas ändert. Diese These ist an und für sich nicht neu; leisten können wir uns diese Einstellung jetzt aber nicht mehr.
Denn was soll das eigentlich heißen? Dass wir es erst dann schaffen werden, sowohl eine solide Standortpolitik als auch eine nachhaltige Budgetpolitik unter einen Hut zu bringen, wenn vorher … was passiert? Noch mehr Betriebe abgewandert, noch mehr Menschen arbeitslos sind? Das will ich nicht glauben. Jetzt, nach der Hitze des Gefechts im Wahlkampf, müssen wieder der kühle Kopf und die Vernunft regieren. Der beste Ratgeber darf nicht mehr die Emotion, sondern muss die Ratio sein. Ich bin nach wie vor optimistisch, dass in allen politischen Lagern genug vernünftige Menschen aktiv sind, die wirklich das tun, was jede Partei vor der Wahl verspricht: FÜR die Menschen, FÜR das Land arbeiten – FÜR eine gute Zukunft.
Bis wir eine neue Regierung haben, wird es also noch dauern – wenn die Qualität des Regierungsprogramms dann die langen Verhandlungen rechtfertigt, auch gut. Daran wird man jede neue Koalition messen müssen.
Allzu lange Zeit sollten wir uns aber auch nicht lassen – denn wir dürfen nicht vergessen, dass allzu langer Stillstand auch wesentliche Gefahren in sich birgt; immerhin befinden wir uns nach wie vor inmitten einer Rezession. Wenn es da zumindest in den wesentlichen Kernbereichen manches gäbe, das man vielleicht rasch außer Streit stellen könnte zwischen potenziellen Regierungspartnern = gemeinsame Interpretation des Auftrags des Wählerwillens? Etwa, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen neue oder höhere Steuern ablehnt? Oder dass ideologisch begründete, aber unrealistische Versprechungen auch nicht mehr geglaubt werden?
Also, gehen wir es gemeinsam an. Blick nach vorne, Ärmel hochkrempeln! In meinem letzten Kommentar schrieb ich vom „versteckten“ Wählerauftrag. Dieser liegt nun offen und transparent vor uns; diesen gilt es jetzt in eine reform- und zukunftsorientierte Politik zu gießen! Vielleicht hilft den Parteien ja der Blick über den Tellerrand: In Schweden waren es einst die Sozialdemokraten, die ihr Land auf Reformkurs gebracht haben, in Griechenland haben die Konservativen erfolgreich die standortpolitische Wende geschafft. Also: Die jeweilige Parteifarbe sollte eigentlich kein Hindernis für vernünftige Standortpolitik sein.
Christian C. Pochtler
Präsident der IV-Wien
Teilen Sie uns Ihre Meinung mit - via Email an debatte@iv.at