„Wecken wir damit die Neugier der Unternehmen?“

Die Rektorin der TU Wien, Sabine Seidler, äußert sich im Interview zu notwendigen Verbesserungen bei den Rahmen-bedingungen für Innovation sowie auch zum neuen Standortabkommen zwischen Stadt und IV-Wien.

Sehr geehrte Frau Rektorin Seidler, was sind aus Wissenschafts- und Forschungsperspek-tive die Stärken und Schwächen von Wien als Technologiestandort?

Wien ist ein attraktiver Forschungsstandort. Dazu tragen verschiedene Aspekte bei: In Wien schaffen – neben einer Vielzahl von Unternehmen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen – 23 tertiäre Bildungs-einrichtungen ein außerordentlich attraktives Forschungsumfeld. Die gezielte Förderung von Schwerpunkten durch den Wiener Wis-senschafts-, Forschungs- und Technologie-fonds (WWTF, Anm.) hat im Bereich der Grundlagenforschung kritische Massen ent-stehen lassen, die zusätzlich durch Kooperationen verstärkt werden und damit Sichtbar-keit generieren. Diese wiederum ist für alle Hochschulen und Forschungseinrichtungen Voraussetzung, um Spitzenforscher nach Wien zu holen, denn auch in diesem Feld gilt der Grundsatz: Top-Wissenschaftler ziehen Top-Wissenschaftler und – was für Österreich ganz wichtig ist – Top-Nachwuchs an. Im Bereich der angewandten Forschung und im Technologietransfer liegt die größte Strahlkraft im Comet-Programm, in dem sich auch das Land Wien strategisch engagiert. Hinzu kommen die FH-Forschungsförderung und verschiedene Forschungsprogramme, die bi- und multilaterale Forschung zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtun-gen fördern. Gerade in diesem Bereich sind die Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar. Sicher gibt es gute Gründe, warum etwa die Silicon Austria Labs (SAL, Anm.) im Wesentlichen ohne Wiener Engagement auskommen müssen; auch, wenn sich in den vergangenen Jahren mit der Arbeit des Vienna Economic Council vieles weiterentwickelt hat, müssen wir nach wie vor an der Vernetzung der Stakeholder arbeiten. Im Standortabkommen bekennen sich Stadt Wien und IV-Wien dazu, einen regelmäßigen Austausch zwischen Stadt, Industrie und Wissenschaft/Forschung zu etablieren. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Vielen von uns ist nicht bewusst, wie vielfältig der Forschungsstandort Wien ist und welche zukünftigen Potenziale hier zu heben sind. Den Standort Wien zeichnet genau das aus: ein kooperativer und integrativer Ansatz bei der Bündelung von Expertise und die Förderung interdisziplinärer Zusammenarbeit zur Bearbeitung von Transformationsprozessen. Die Stadt Wien ist mit ihren Strategien und Systemen für die Umsetzung vielschichtiger Transformationsprozesse – etwa Digitalisierung, Mobilität, Klimaschutz –, von denen unser Alltag geprägt ist, sehr gut gerüstet. Im Kooperationsabkommen über den Hochschulstandort mit Wiener Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen sichert etwa die Stadtverwaltung durch Services der Wirtschaftsagentur Wien Unterstützung zu, wenn es den Unis und Hochschulen darum geht, Absolventen in Wien zu halten. Zudem erhalten Wissenschaftler in Wien sub-stanzielle finanzielle Unterstützung durch den WWTF. Neben dem Auf- und Ausbau inhaltlicher Schwerpunkte wie etwa Umwelt- und Energiesystemforschung oder Digitaler Humanismus wirken WWTF-Förderungen dort, wo Innovation, Exzellenz und Grund-lagenforschung zusammentreffen. Das erhöht nachweislich die Attraktivität für wis-senschaftliche Talente aus aller Welt und hilft damit, Wien als gewichtigen Wissenschaftsstandort zu positionieren, weiterzuentwickeln und weltweit sichtbar zu machen. Die Nähe und Verschränkung mit der lokalen, nationalen und internationalen Wirtschaft und Industrie sowie den vielen Organisationen und Einheiten der Vereinten Nationen in Wien runden das Bild eines begehrten Tech-nologiestandorts Wien ab.

Was brauchen wir Ihrer Meinung, um aus den an sich guten Forschungserfolgen einen noch stärkeren Mehrwert für die österreichische Wirtschaft zu generieren?

Der Weg von der Grundlagenforschung zur Innovation ist ein Wertschöpfungsprozess mit vielen Schnittstellen, die von unterschiedlichen Stakeholdern bedient werden müssen. Die Rolle einer Technischen Universität geht in diesem Prozess recht weit, die Forschungsstrategie der TU Wien folgt diesem Wertschöpfungsgedanken: An der TUW können wir Grundlagen weiter in Richtung Anwendung entwickeln, über unser Innovation Incubation Center „i2c“ bis hin zur Ausgründung. Aber eine Universität stößt, wenn es um weiterführende wirtschaftliche Verwertung und um Skalierung geht, schnell an ihre Grenzen. An dieser Stelle sind Schnittstellen gefragt, und an denen müssen wir arbeiten. Starke Forschungskooperationen sind dabei ein wichtiger Aspekt, und Innovationskooperationen gilt es zu entwickeln. Die TU Wien hat aktuell auf ihrer Website mehr als 100 Technology Offers aus den unterschiedlichsten Gebieten, beginnend mit Energieerzeugung und -speicherung, über ICT-Technologien, Pharma und Medizintechnik, Produktionstechnologien, neue Werkstoffe bis hin zu Umwelttechnologien et cetera. Wecken wir damit die Neugier der Unternehmen? Wenn hier eine Lücke entsteht, muss diese geschlossen werden, indem wir weiterhin aufeinander zugehen, die wechselseitigen Bedürfnisse erfassen und mit diesem Wissen gemeinsame Räume für innovatives Arbeiten schaffen – und das im wortwörtlichen Sinn.

An welchen Stellschrauben müsste noch ge-dreht werden, um die Rahmenbedingungen für die universitäre Forschung in Wien weiter zu verbessern? 

Die Attraktivität eines Forschungsstandorts formt sich aus dem intellektuellen Kapital, den Köpfen, und im naturwissenschaftlich-technischen Bereich zusätzlich aus der Infrastruktur. Darüber hinaus gilt es, Sichtbarkeit zu erzeugen. Die Wiener Forscher sind außerordentlich erfolgreich, arbeiten doch vier der fünf Forschungsdirektoren der Clusters of Excellence des FWF an Wiener Forschungseinrichtungen. Schwerpunktbildung ist ein Geheimnis dieses Erfolgs, und an dieser Stelle müssen wir konsequent weiterarbeiten. Das gilt für die Wiener Forschungseinrich-tungen ebenso wie für die unterstützenden Stellen in der Stadt. Auch im neuen Standortabkommen ist dieser Aspekt ausdrücklich adressiert. Im Grundlagenforschungsbereich sehe ich eine große Chance, den Digitalen Humanismus als Alleinstellungsmerkmal für die Stadt weiterzuentwickeln. Der Reiz besteht hier in der Interdisziplinarität im Forschungsansatz und in dadurch besseren technologischen Lösungen. Ein ganz anderer Aspekt ist die Sichtbarkeit von Wien als Wissens- und Innovationsstandort. Die Stadt mit der höchsten Lebensqualität, bekannt als Zentrum für Kunst und Kultur, ist eine Wissenschaftsmetropole, und das muss selbstbewusst nach außen getragen werden.


Foto: Raimund Appel

Sabine Seidler, Rektorin TU Wien