Zeit, erwachsen zu werden

Europa ist mit ideologisch geprägtem, werte-romantischem Blick durch die jüngste Weltgeschichte gestolpert.Das muss sich sofort ändern: Wir brauchen gerade jetzt eine interessengeleitete Realpolitik.

Wie Europa und Österreich durch diesen Winter kommen werden, ist derzeit nicht ganz klar. Bei unserem Nachbarn Deutschland wurde zwar der Ernst der Lage erkannt – die dort geplanten bis zu 200 Milliarden Euro (!) für eine Gaspreisbremse zeigen die Dimension dieser Krise. Der unsolidarische Alleingang Deutschlands sorgte allerdings für reichliche, nicht unberechtigte Kritik bei den europäischen Partnern. Vielleicht war das am Ende aber genau das Signal für die
Wende zu einem gemeinsamen, strukturellen Handeln in der EU?


Neben dem kurzfristig Notwendigen, um den Standort Europa halbwegs unbeschadet durch diese Krise zu bringen, sollten wir aber jedenfalls dringend über unsere langfristigen Lehren aus dieser misslichen Lage sprechen: Bereits Corona hat viele Schwächen unseres politischen Systems offengelegt, aber dieser Krieg führt uns geradezu erschreckend deutlich vor Augen, wie sehr wir uns in der Vergangenheit selbst ins Eck manövriert haben. Und damit meine ich ganz Europa, nicht nur Österreich. Wer abhängig ist, wird erpressbar. Derzeit fällt uns das massiv auf den Kopf. Diese Wahrheit ist mittlerweile
eine Binsenwahrheit – aber ist die ganze Wahrheit den Menschen und vor allem auch der Politik zumutbar?


„Ideologie ist Ordnung auf Kosten des Weiterdenkens“, wusste schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Tatsächlich haben wir in Europa viel zu lange nur mit ideologischen Scheuklappen auf die Herausforderungen unserer Zeit geblickt. Beim Klimaschutz bestreitet etwa keiner, dass dringend eine ganze Menge passieren muss – jedem generationen-übergreifend denkenden Menschen leuchtet das ein. Sich aber als gesamter Kontinent von der romantischen Vorstellung leiten zu lassen, man müsse nur selbst zum leuchtenden Vorbild werden, damit dann andere, in inbrünstiger Bewunderung europäischer Weitsicht, diesem Weg folgen – diese Vorstellung war und ist kindliches Wunschdenken. Zeit, erwachsen zu werden und mit nüchternem Blick auf die Realität zu handeln.


Von Charles de Gaulle ist der Spruch überliefert, Staaten hätten keine Freunde, nur Interessen. Ein entscheidender Punkt, den
wir vergessen haben. Wir haben gehofft, mit „soft power“, mit europäischen Musterschülertum, könnten wir die Welt überzeugen, dass wir den „richtigen Weg“ verfolgen. Derweil hat der Rest der Welt die eigenen Interessen im Blick gehabt. Und wenig überraschend waren die Sonntagsreden der europäischen Polit-Elite den meisten am Ende relativ egal.


Wir haben es verabsäumt, unsere eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen. Was wir brauchen, ist also die Rückkehr einer interessengeleiteten Realpolitik. Stehen wir dann einmal so gut da, dass wir es uns leisten können, dann dürfen wir gerne auch wieder ein bisschen Werte-Romantik betreiben und versuchen, unsere Idealvorstellungen in die Welt zu tragen. Zuerst sollten wir aber unser eigenes Haus in Ordnung bringen.


Wer einmal ohne rosarote Brille Bilanz zieht über die bisherige Art und Weise, wie wir die Energiewende zu stemmen versucht haben, wird konstatieren müssen, dass es so wohl nicht funktionieren kann. So wurden in vielen Ländern, auch in Österreich, manche technologische Lösungen von vornherein abgelehnt. Erdgas in verflüssigter Form importieren, ja gerne, egal ob durch Fracking gewonnen oder wie auch immer. Bei uns selbst vorhandene Gasvorkommen nutzen? Keinesfalls! Und gegen dreckigen Atomstrom verkauft der Wunderheiler um die Ecke Filter für die Stromleitung. Aber gut, das ist jetzt vielleicht zu zynisch.


Sicher ist, dass wir uns alle technologischen Türen offenhalten müssen – vor allem auch in der Forschung. Wir sind jedoch vielfach andere Wege gegangen oder tun dies noch immer. Europa war einmal sehr stolz auf die eigene Automobilindustrie – da waren wir wer. Wir haben dieser Industrie schon in der Vergangenheit aufgrund ideologisch definierter Zielvorstellungen manches Bein gestellt, nunmehr sind wir sogar bei pauschalen Technologieverboten angelangt. Und das, obwohl noch nicht hundertprozentig klar ist, ob wir die politisch gewünschte, vermeintliche „Zukunftstechnologie“ auch rechtzeitig im nötigen Umfang liefern und mit Energie versorgen werden können. Nicht zu vergessen, dass mit seltenen Erden und anderen
Rohstoffen noch größere Abhängigkeiten drohen als jetzt mit Gas. Bei uns selbst vorhandene Ressourcen abbauen wollen wir wieder nicht, das hatten wir schon.


Beim Verbrennungsmotor waren wir lange Weltspitze, ob uns dasselbe beim Elektroantrieb gelingen kann? Man darf skeptisch sein. Keine so rosigen Aussichten für eines der letzten industriellen Schwergewicht der alten Welt – inklusive Zulieferer, abhängiger Dienstleistungen und anderer. Vielleicht doch lieber technologieoffen bleiben? Immerhin könnten in Zukunft auch synthetische oder Bio-Kraftstoffe eine Rolle spielen.


Mehr Realismus brauchen wir hier alle, und zwar in allen Bereichen. Die Energiewende und die Zukunft der Automobil-industrie sind nur zwei Beispiele von vielen. Diesbezüglich wäre es einmal die dringendste Aufgabe der Politik, den Menschen reinen Wein einzuschenken: Aktuell befindet sich Europa am absteigenden Ast – vor allem, wenn wir weiter in unserer Komfortzone verharren. Unseren Wohlstand halten, dabei weniger arbeiten und mehr Freizeit genießen, Fortschritt bei gleichzeitigem Verzicht auf ideologisch unerwünschte Technologien – dieser Mix ist unmöglich und kindliches Wunsch-denken. Aber auch das hatten wir schon.


In Deutschland habe ich vor kurzem eine harsche Warnung, eine traurige Zukunftsprognose gehört: „Die Globalisierung lebt,
aber der Industriestandort Deutschland stirbt.“ Wenn wir nicht wollen, dass Europa in der Zukunft nur mehr als Tourismus-destination bekannt ist, dann werden wir aufwachen müssen. Es gibt da eine alte Weisheit in der Bibel, die derzeit in Europa leider als Handlungsempfehlung verstanden werden muss: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber erwachsen wurde, tat ich ab, was kindlich war.“


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