Schlafwandelnd in den Abgrund?

Krise jagt Krise, wir hecheln hinterher. Der rege Aktionismus verdeckt, dass wir gleichzeitig langfristige Problemenicht mehr sehen oder sehen wollen.

Der Historiker Christopher Clark sorgte vor rund zehn Jahren mit seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ für Furore: In diesem
beschreibt er, wie Europa im Vorfeld des Ersten Weltkrieges aufgrund seiner Bündnispolitik und den damit einhergehenden
Verpflichtungen, die größere Staaten gegenüber ihren kleineren Bündnispartnern eingegangen waren, gewissermaßen ohne
es zu merken in die größte Katastrophe der damaligen Zeit hineintaumelte. Diese Analogie mag übertrieben erscheinen, der
dritte Weltkrieg steht hoffentlich nicht vor der Tür. Aber das Bild der „schlafwandelnden Politik und Gesellschaft“ scheint mir
leider nur allzu treffend. Denn auch heute wandeln wir, scheinbar ohne es merken zu können oder zu wollen, auf einen Abgrund zu. Der Protest dagegen hält sich, gelinde gesagt, in Grenzen.


Einer der jüngsten Auslöser für diesen Gedankengang war die Bundestagung der Jungen Industrie in Wien, bei der ich zu
Gast war. Welche Grußworte richtet man in Zeiten wie diesen an die jüngere Generation? Zukunft, Hoffnung, Innovation
– üblichen Allgemeinplätze bieten sich an, alle richtig, alle treffend, gleichzeitig aber auch jedenfalls zu wenig angesichts der aktuellen Multikrise.


Ich habe mich schließlich dazu entschlossen, einen Appell an die jüngere Unternehmergeneration unseres Landes zu richten:
Seid mutig und der Katalysator für Veränderung in diesem Land – und das muss auch heißen: Geht in die Politik! Engagiert
euch! Denn leider, so meine Überzeugung, verstehen viele der derzeitigen Politiker nicht, worauf wir gerade zusteuern.


Nun muss man zur Verteidigung der Politik anmerken, dass Politik und Unternehmertum zwei komplett andere Welten sind, andere Erfolgskriterien, andere Mechanismen. In guten Zeiten, mit Frieden und brummender Wirtschaft, ist das vielleicht kein allzu augenscheinliches Problem. In Krisenzeiten aber offenbart sich die große Gefahr, die aus dem Unverständnis der Politik für wirtschaftliche Zusammenhänge herrührt. Ein Unternehmer kann sich die Welt nicht so zurechtdenken und -wünschen, wie er sie gerne hätte. Er muss mit den nackten Realitäten arbeiten – was nicht geht, geht eben nicht. Die Politik arbeitet lieber mit bunten Luftschlössern, Gedankengebilden, Wunschdenken. Politik soll zu einem Teil auch inspirieren, „große Bilder“ einer Zukunft malen, auf die wir als Gesellschaft zusteuern sollten. Wenn diese Bilder aber kein Fundament mehr in der Realität haben, wird es gefährlich.


Lassen Sie mich dies kurz illustrieren: Erwähnt sei an dieser Stelle als Erstes die implizite Staatsverschuldung. Damit ist gemeint, dass man nicht einfach nur die explizite Staatsverschuldung eines Staates im Auge behalten muss. Entscheidend ist auch, welche Verbindlichkeiten aufgrund der bestehenden Gesetze ein Staat eingegangen ist – etwa durch die Pensionsversprechen gegenüber den Bürgern. Ein Unternehmen muss diese Verbindlichkeiten natürlich bilanzieren, der Staat mit seiner Fiskalpolitik (Einnahmen-Ausgabenrechner) ignoriert seine zukünftigen verbindlichen Verpflichtungen. In Österreich, wo keine Pension ohne staatlichen Zuschuss aus Steuergeld auskommt (derzeit machen die Zuschüsse fast ein Viertel des gesamten Budgets aus!), haben die Menschen, die jetzt noch aktiv im Arbeitsleben stehen, einen gesetzlich definierten Anspruch auf eine Pension – dieser Anspruch wird eines Tages schlagend.


Das Modell der impliziten Staatsverschuldung zielt somit darauf ab, den Bürgerinnenund Bürgern transparent und deutlich vor Augen zu führen, wie nachhaltig und generationengerecht der Haushalt tatsächlich ist die letzten für ganz Europa verfügbaren Zahlen (statista.com) weisen teilweise erschreckende Differenzen zwischen der offiziellen
und der impliziten Staatsverschuldung aus. Demnach betrug diese offizielle Verschuldung Österreichs 2018 78 Prozent.
Die „verdeckte“, also implizite Schuld lag bei 143 (!) Prozent. Griechenland liegt da etwa deutlich besser als das „frugale“ Österreich. Dass die Situation seit damals nicht besser geworden sein kann, liegt auf der Hand.


In Österreich haben vor allem die Denkfabrik Agenda Austria sowie das Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria viele Jahre
lang immer wieder versucht, die öffentliche Meinung mit Studien und Prognosen auf- und wachzurütteln. EcoAustria weist
im Schuldencheck 2018 eine implizite öffentliche Verschuldung von 224 Prozent des BIP aus. Zusammengerechnet mit den
damaligen 83,6 Prozent offizieller Staatsverschuldung betrug das wirkliche Defizit unseres Staates damals also bereits über
300 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung! Nachhaltigkeit?!


Hier wäre eine aktuelle Neuberechnung mehr als nur spannend, immerhin jagen wir seitdem mit allerlei Hilfspaketen einer
Krise nach der anderen hinterher. Solche Pakete sind in Krisenzeiten manchmal unvermeidbar. Allerdings hat Österreich die
Tendenz, mit der Gießkanne viel Geld zu verteilen, selten zielgerichtet, aber stets großzügig auf unser aller Kosten! Nachdem
wir die derzeitigen, akuten Krisen überwunden haben werden, wird Bilanz gezogen werden müssen – weiß die Politik denn überhaupt, wie stark unsere implizite fiskalische Schieflage bereits ist? Ist der Kontrollverlust bereits eingetreten? Ich
fürchte Schlimmes!


Womit wir wieder bei der Politik sind. Natürlich ist es populärer, den Wählerinnen und Wählern Geldgeschenke zu machen.
Das Brimborium der Politik verdeckt leider oft erfolgreich, dass die Bürger sich diese Geldgeschenke ohnehin selbst zahlen oder zahlen werden müssen.


Und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, festgemacht an einem Beispiel: Dem Pensionssystem, bedauerlicherweise eine chronische Baustelle der heimischen Politik. Die letzten ernsthaften Reformversuche geschahen Anfang des neuen Jahrtausends, seit damals wurden manche sinnvolle Reformen wieder zurückgenommen, neue Belastungen erfunden und natürlich jedes Jahr öffentlichkeitswirksam munter Geld verteilt für außertourliche Pensionserhöhungen.


Im Falle des Pensionssystems gibt es aktuelle Berechnungen der Agenda Austria. Das Ergebnis: Die jährlichen Zuschüsse ins Pensionssystem werden von 20,8 Mrd. Euro 2020 auf 32,8 Mrd. Euro 2026 steigen. Zwischen 2022 und 2026 allein werden wir damit in Summe rund 140 Mrd. Euro aus dem staatlichen Budget für das Pensionssystem aufwenden müssen.


Die Probleme sind altbekannt: Wir gehen zu früh in Pension, haben keine automatische Anpassung des Pensionsantritts-alters an die Lebenserwartung, zu wenig Abschläge bei Frühpensionierungen und so weiter und so fort – gleichzeitig suchen wir händeringend nach qualifizierten Arbeitskräften! Im Falle des Pensionssystems zeigt sich dasgrundlegende Problem der Politik.


Konrad Adenauer hat den Satz geprägt: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ Ergänzend müsste man als Charakterzug der Politik wohl hinzufügen: „Was kümmert mich das Geschwätz von morgen? Politik denkt im Hier und Jetzt, maximal die nächste Wahl ist entscheidend als Horizont. Jetzt muss Stimmung gemacht, jetzt müssen Wählerstimmen gewonnen werden. Wen juckt es schon, dass als Auswirkung der aktuellen Politik eine massive Überverschuldung in der Zukunft droht?


Die Politik beruhigt stets, wenn derartige Fragen laut werden. Die Beamtenpensionen würden ja sinken. Außerdem ginge sich das alles aus, man müsse die Entwicklung der Pensionskosten ja relativ zum Wachstum der Wirtschaft sehen. Tatsächlich wurden in der Vergangenheit immer wieder wohlklingende Prognosen veröffentlicht, die belegen sollten, dass der Anstieg der Pensionskosten so schlimm nicht sein werde. Hinterlegt wurden hier aber allzu oft Wachstumsannahmen,
die selbst in guten Zeiten überzogen waren. Der Chefökonom der IV, Christian Helmenstein, sprach hier einmal sehr
treffend von „Christkind-Szenarien“.


Derzeit erleben wir, wie illusorisch es war und ist, von einer immer gleichbleibenden, steten Steigerung des Wirtschaftswachstums auszugehen. Externe Schocks wie der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen sind unvorhersehbar. Der schleichende, selbst verschuldete Verlust europäischer Wettbewerbsfähigkeit verschärft<
diese Situation weiter.


Jedem Menschen mit ein wenig wirtschaftlicher Grundkenntnis muss klar sein, dass sich der Status quo auf Dauer so nicht
aufrechterhalten lassen wird. Wir geben laufend mehr aus, als wir einnehmen, wir investieren massiv Geld in ineffiziente
Strukturen und Konsumausgaben statt in zukunftsbezogene Ausgaben.


Es wäre mehr als wünschenswert, wenn hier ähnlich wie beim Thema Klimawande junge Menschen an der Spitze des Protestes stünden. Tun sie aber nicht. Und das ist ein großer Fehler. Denn wir sind dabei, die Zukunft dieser jüngeren und kommenden Generationen zu verspielen.


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