Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs scheint es Europas Schicksal zu sein, sich zwischen zwei mächtigeren Blöcken bewe-gen und behaupten zu müssen. Während aber früher das politische Feindbild, die Sowjetunion, ökonomisch kaum Gewicht hatte, sehen wir jetzt einer bipolaren Welt mit zwei Supermächten entgegen. In der Zukunft – bei aller Sympathie und systemi-schen Gemeinsamkeiten – werden wir uns auch um mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit von den USA bemühen müssen, deren Interessen und Fokus sich auch gerade mehr und mehr China zuwenden. Gerade auch hier werden wir ein Auge darauf haben müssen, in keine allzu großen Abhängigkeiten zu geraten und unsere Interessen durchzusetzen.
Dazu bedarf es zuallererst eines nüchternen Blicks auf die Ausgangslage. Diese ist keineswegs einfach. In beiden Fällen – also sowohl beim Blick nach Westen als auch nach Osten, ist die öffentliche Debatte in Europa aber häufig von oberflächlichen Halbwahrheiten geprägt. Das Schimpfen über China oder die USA erfreuen sich beide großer Beliebtheit. Besonders ausgeprägt ist diese im Falle Chinas. Noch immer sprechen viele vom Reich der Mitte als der „verlängerten Werkbank“ des Westens. Wer das noch für aktuell hält, ignoriert, mit welcher Dynamik sich China in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat und mit welcher Ge-schwindigkeit es dies auch weiter tut.
Noch vor wenigen Jahren schien es, als würden europäische Automobilhersteller für lange Zeit am chinesischen Markt Erfolge feiern können. Bei einzelnen Luxusmarken ist das vielleicht noch der Fall, betrachtet man aber den größten Zukunftsmarkt, die Elektromobilität, dann sieht es bereits jetzt eher dunkel aus: So verkauften deutsche Hersteller 2022 4,4 Millionen Autos in China – immerhin ein Marktanteil von knapp über 19 Prozent. Im am schnellsten wachsenden Segment, dem Geschäft mit Elektroantrieben, lag der Marktanteil aber nur bei fünf Prozent. Unter den zehn meistverkauften Elektroautos in China findet sich kein Modell aus Europa. Der einzige ausländische Anbieter in dieser Liste ist Tesla.
Die chinesische Dominanz in diesem Bereich ist bereits in Europa zu spüren: 2021 wurden laut PwC lediglich 35.000 Elektroautos aus China nach Europa exportiert. 2022 waren es bereits 66.000. Die Schätzung für 2026 liegt bei 800.000 Autos Einer der Hauptgründe: Die Technologieführerschaft und die Fokussierung auf kundengerechte und leistbare Elektroautos spielen marktseitig die Hauptrolle. Da ist entscheidend, dass die Produktionskosten in China nicht mit jenen bei uns oder den USA zu vergleichen sind. Laut einer Untersuchung des Analysten JATO Dynamics stieg der durchschnittliche Preis eines europäischen Elektroautos von 2015 bis 2022 um rund 7.000 Euro auf knapp unter 56.000 Euro. In den USA stiegen die Kosten um rund 10.000 auf über 63.000 Euro. Im gleichen Zeitraum sanken die Preise in China von fast 67.000 auf 31.000 Euro ohne dass bei Qualität und Design dieser Fahrzeuge darunter litten.
Das war nur ein plakatives Beispiel aus der Wirtschaft. Betrachtet man das Gesamtbild, sieht es nicht anders aus. China investiert in verschiedenste strategische Bereiche: Ob Bahn- oder Straßennetz, Energieinfrastruk-tur oder auch Grundlagenforschung. Jedes potenzielle Zukunftsfeld wird abgedeckt. Man muss neidlos anerkennen, dass China hier Großartiges geschafft hat. Längst ist China also nicht mehr nur „Werkbank“, oder Herkunftsort billiger „Kopien“ europäischer Produkte. China ist ein ökonomisches Schwergewicht – das sollte man akzeptieren und respektieren, auch wenn China systemisch ganz anders gepolt ist als wir.
Allerdings glauben wir Europäer oftmals, wir könnten mit erhobenem Zeigefinger China sowie einigen anderen Staaten und Regionen erklären, was man tun darf und wie man sich bitte in der Welt zu verhalten habe. Als wäre notgedrungen unser europäischer Weg der einzig mögliche und richtige. Selbst wenn das so wäre: Ist es nicht vollkommen verständlich, dass keiner in China dauernd von einem Kontinent belehrt werden will, der noch dazu womöglich am absteigenden Ast sitzt?! Vor allem da man sich in China, keineswegs zu Unrecht, in einer lange zurückreichenden Tradition (nunmehr wieder) als Kultur- und Weltmacht sieht.
China plant strategisch, langfristig und agiert interessensgeleitet. Das hat China mit den USA gemein. Eben diesen Fokus auf die eigenen Interessen werfen manche Europäer auch den USA vor. Was soll denn daran unanständig sein? Es ist nur natürlich, die eigenen Interessen zu verfolgen. Im Unterschied dazu ist es geradezu unverständlich, dass wir in Europa noch immer nicht fähig sind, eine pragmatische, interessensgeleitete, strategisch durchdachte, gemeinsame Außen- und Wirtschaftspolitik zu finden.
Dadurch sind wir derzeit nicht oder nur mehr bedingt konkurrenzfähig am internationalen Parkett. Das sollte uns vor allem mit Blick auf die Zukunft zu denken geben. Weitere Gemeinsamkeiten der USA und China sind zum Beispiel eine aktive Willkommenskultur für Unternehmen. Außerdem gilt Leistung als wichtige Tugend und Neiddebatten sind weitgehend unbekannt. Und während beide Länder jede Innovation, von KI über Gentechnik bis hin zum Thema Atomenergie, für sich zu nutzen wissen – dort sind technologische Denkverbote nicht erwünscht –, diskutieren wir zuerst echte oder vermeintliche Gefahren neuer Technologien, den Datenschutz, mögliche Regulierungen, Gentechnik-Verbote etc.
Also noch ein Nachteil für Europa. Diese Unterschiede kommen uns jetzt schon und natürlich vor allem langfristig sehr teuer zu stehen. Und damit nicht genug: Wir haben aktuell sicherlich ein paar Rucksäcke mehr zu tragen als unsere Partner und gleichzeitigen Rivalen in den USA und Asien. Der Krieg in der Ukraine mit all seinen Folgen und die Energiekrise sind eine Zusatzbelastung, die uns das Leben noch länger schwerer machen wird als den USA und China. Gleichzeitig muss dieser Krieg ein endgültiger Weckruf für Europa sein: Wenn wir nicht vereint auftreten, sind wir chancenlos.
Wir müssen unsere Abhängigkeiten reduzieren, eigenständiger werden und endlich strategischer agieren. Egal ob im Bereich der Wirtschaft („fehlende Industriestrategie“) oder der Außenpolitik („Diplomatie auf Augenhöhe statt Ermahnung mit dem erhobenen Finger“): Wir müssen die neuen Realitäten unserer Welt akzeptieren und rasch die richtigen Schlüsse ziehen! Nur dann können wir auch tatsächlich beiden Blöcken der modernen Weltordnung mit dem notwendigen Selbstbewusstsein, aber natürlich im Systemischen nie äquidistant (!), gegenübertreten. Und eben dann können wir auch unser ökonomisches Gewicht zur Geltung bringen und auf faire Spielregeln, die für alle gleichermaßen gelten, Stichwort Reziprozität, drängen.
In unzähligen Sonntagsreden haben wir immer wieder gehört, wie wichtig es sei, dass Europa mit einer Stimme spräche. Diesem Lippenbekenntnis steht die traurige Realität gegenüber, dass wir nämlich als kleine, nationale Heinzelmännchen agieren.
Teilen Sie uns Ihre Meinung mit unter: debatte@iv.at