Europa reguliert sich ins Abseits

Der „alte Kontinent“ sieht derzeit in vielen Bereichen tatsächlich alt aus: Unser Umgang mit neuen Technologien könnte uns langfristig Kopf und Kragen kosten. Aktuelles Beispiel ist die künstliche Intelligenz.

Das Thema künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit in aller Munde – spätestens seit jeder selbst mit Anwendungen wie Chat GPT experimentieren kann, wird klar, welches Potenzial hier schlummert; wobei wir Europäer eher die Risiken denn die Chancen diskutieren. Und klarerweise bedeutet diese Technologie auch Disruption: Erste große Unternehmen in den USA wollen in Zukunft weniger Stellen nachbesetzen, da viele Prozesse von KI-Anwendungen effizienter gestaltet werden können. Mit dem Bildungsunternehmen Chubb gibt es auch ein erstes Opfer: Die Lernsoftware des Unternehmens wurde durch Chat GPT4 sozusagen über Nacht obsolet.

Bedenkt man, dass wir derzeit mit einem nie da gewesenen Mangel an Arbeits- und Fachkräften konfrontiert sind, könnte man hierzulande das Potenzial von KI-Anwendungen ja eigentlich recht optimistisch sehen, oder? Der Arbeitskräftemangel wird sich aus demografischen Gründen mittelfristig massiv verschärfen – können neue Technologien Abhilfe schaffen? 

Und damit zum grundlegenden Problem: Derzeit kommt fast alles, was im Bereich KI an neuen Innovationen gefeiert wird, aus den USA. Auch China ist vorne mit dabei, obwohl das Reich der Mitte sich womöglich auf Abwege begibt: KI-Anwendungen sollen dort nämlich mit den ideologischen Grundwerten des Landes vereinbar sein. Ob sich kommunistisch angehauchte Künstliche-Intelligenz-Tools weltweit größerer Beliebtheit erfreuen werden, bleibt abzuwarten.

Die Gründe für die derzeitige Vorherrschaft der USA sind vielfältig, Tatsache ist aber jedenfalls: In den USA haben Forscher und Unternehmen viel mehr Freiheiten, neue Ideen auszuprobieren. Im Fall von KI ist es zudem besonders wichtig, dass man diese mit ausreichend Daten füttern kann, um sie zu trainieren. Genau das ist in Europa aber ungleich schwieriger: Datenschutzbedenken wiegen in der EU weit mehr als jenseits des Atlantiks.

Die Technologie steht erst ganz am Anfang, aber schon kommen von allen Seiten die „digitalen Maschinenstürmer“ und warnen vor noch weitgehend Unbekanntem. Aber aktuell wird in der EU tatsächlich intensiv darüber debattiert, wie eine strengere Regulierung von KI aussehen soll. Kein Wunder, dass bei manchen die Alarmglocken schrillen: So hat etwa der Verein Laion, ein Zusammenschluss führender europäischer KI-Wissenschaftler und -Experten, Anfang Mai in einem offenen Brief die EU-Abgeordneten „eindringlich“ dazu aufgerufen, bei jeder neuen Regulierung „die Auswirkungen (...) auf Forschung und Entwicklung zu berücksichtigen“.

Es bleibt abzuwarten, wie das neue Regelwerk am Ende aussehen wird. Als „gelernter Europäer“ liegt die Vermutung aber nahe, dass die Bedenken und Ängste „der Menschen“ vor neuen Technologien mehr Gewicht haben werden als die Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Gerade in Österreich kennt man das zur Genüge. Ob bei Themen wie Atomstrom oder Fracking, Nanotechnologie oder Gentechnik – die Grundtendenz scheint immer zu sein: Neue Technologien können nur böse sein, daher braucht es gesetzliche Schranken zum Schutz der Bürger! Es gab und gibt bei uns sogar Politiker, die sich öffentlich rühmen, in ihrem Leben nur eine Handvoll Bücher gelesen zu haben. Volksnah nennt man das dann. Und gleichzeitig wundern wir uns, warum die Technologiefeindlichkeit hierzulande ungleich höher ist als anderswo.

Durch diese Grundhaltung hemmen wir Innovationen auf unserem Kontinent, die wir dringender benötigen würden denn je. Andere Länder warten nicht darauf, dass wir unsere Bedenken ausdebattiert haben – wir verlieren somit einmal mehr wohl den Anschluss an den Rest der Welt. Beim Thema KI könnte uns das in Österreich doppelt treffen, denn Österreich droht selbst innerhalb Europas ein regelrechtes Debakel: Laut Sepp Hochreiter, dem Leiter des Instituts für Machine Learning an der Linzer JKU, liegt unser Land bei den Investitionen in die KI-Grundlagenforschung in etwa gleichauf mit Uganda.

Das sollten wir unbedingt ändern, denn das Thema KI geht nicht weg, nur weil wir es nicht wollen. KI-Anwendungen sind, von vielen vielleicht unbemerkt, bereits normaler Bestandteil unseres Alltags – Tendenz stark steigend! Darüber, welche Auswirkungen das haben kann und wird, sollten wir natürlich reden. Vor allem wird man etwa auch im Bildungsbereich möglichst rasch reagieren müssen: Die Nutzung von Chat GPT kann man Schülern ohnehin nicht verbieten – umso wichtiger wäre es, jungen Menschen auch einen kritischen und reflektierten Umgang mit diesen neuen Tools beizubringen.

Schüler sollten ein grundlegendes Verständnis dafür haben, was KI ist und wie sie funktioniert. Es ist wichtig, dass sie verstehen, dass Chat GPT eine computergestützte Technologie ist, die Antworten auf Fragen auf der Grundlage von Algo-rithmen generiert. Schüler sollten ermutigt werden, kritisch über die Antworten von Chat GPT nachzudenken und sie mit anderen Quellen und Meinungen zu vergleichen. Sie müssen verstehen, dass Chat GPT ein Werkzeug ist, das ihnen helfen kann, aber nicht unbedingt die endgültige Antwort auf ihre Fragen liefert.

Das sind gute Tipps – der letzte Absatz wurde übrigens von Chat GPT selbst geschrieben! Die KI „weiß“ also, dass man mit ihren Ergebnissen „kritisch“ wird umgehen müssen, aber ist unser Bildungssystem darauf vorbereitet? Es gibt bereits Schulen, die etwa bei Aufsätzen mehrere Versionen verlangen: einen eigenen, einen von Chat GPT geschriebenen und einen mittels Chat GPT überarbeiteten – kein so schlechter Ansatz. Auch Unternehmen werden einen eigenen Code of Conduct entwickeln müssen; aber da hilft eine Regulierung, die nur verbietet, reichlich wenig. 

Chat GPT ist bei aller Faszination ja nur der Anfang. KI wird immer schneller immer mehr Lebensbereiche beeinflussen. Wenn wir hier (wieder einmal!) nicht mithalten können, dann werden wir auch in anderen Bereichen mit viel Zukunftspotenzial zurückfallen. So hätten wir im Bereich der Quantencomputer – die erst die Rechenleistung für all diese Zukunftstechnologien zur Verfügung stellen werden – keine so schlechten Voraussetzungen. Wenn wir uns dann aber wieder jahrelang vor allem mit Fragen der Regulierung und des Datenschutzes auseinandersetzen, dann wird auch dieser Zug (und es wird keine Dampflok sein, vor der sich die Menschen vor rund 200 Jahren auch so geschreckt haben) ohne uns den Bahnhof verlassen. Wer sich vor der Zukunft immer nur fürchtet, wird sicher nicht derjenige sein, der sie gestaltet!


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