Europa muss sich seiner Stärken besinnen und sie ausbauen, wenn es in einer neuen multipolaren Welt eine Rolle spielen will. Die Weltordnung ändert sich in schnellen Schritten: Kooperationspartner wie die BRICS-Staatengemeinschaft eint trotz aller Unterschiede der Gedanke, ein Gegenmodell zum Westen etablieren zu wollen. Freiheit und Demokratie haben in einigen dieser Länder kein Monopol auf wirtschaftliche Erfolgsgeschichten, das bringt das Wohlstandsnarrativ der EU und befreundeter Demokratien unter Druck. Neben diesem Rütteln an den gesellschaftlichen Grundfesten des alten Kontinents bringen die Verschiebungen in der Weltordnung Lieferketten ins Wanken und wirtschaftspolitische Herausforderungen bedrohen die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, die die Basis des Wohlstands in Europa ist. „iv-positionen“ beleuchtet drei Stärkefelder, auf die Europa die Scheinwerfer seiner Aufmerksamkeit richten sollte, um wieder eine wichtige Rolle auf der globalen Bühne einnehmen zu können.
In der grünen und digitalen Doppeltransformation liegen – richtig gemacht – für Europa große Chancen; hier kann der Kontinent mit Stärken punkten. Für die Umsetzung und den „laufenden Betrieb“ der transformierten Wirtschaft und Infrastruktur braucht es jedoch Rohstoffe und Komponenten aus anderen Weltregionen. Die Gefahr dabei liegt in einseitigen Abhängigkeiten von einzelnen oder wenigen Lieferanten – das musste die EU und insbesondere auch Österreich bei Russland als Erdgaslieferant schmerzhaft lernen. China zögert nicht, wenn es um Rohstoff-Muskelspiele geht: Mit August hat das Land die Ausfuhr von Gallium und Germanium beschränkt, diese Mineralien sind für die Halbleiter-, Telekommunikations- und Elektrofahrzeugindustrie von entscheidender Bedeutung. Die EU bezieht 71 Prozent ihres Galliums und 45 Prozent ihres Germaniums aus China.
Die Kontrolle kritischer Versorgungsketten könnte in Zukunft immer öfter genutzt werden, um politische – oder vielleicht sogar militärische – Ziele durchzusetzen. Um dem nicht hilflos ausgeliefert zu sein, braucht die EU aus Sicht der Industrie dringend mehr Tempo beim Abschluss und der Stärkung internationaler Handelsallianzen. Das betrifft das Abkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Ländern, aber auch Partnerschaften wie beispielsweise mit Australien, das derzeit sein gesamtes Lithium nach China exportiert und intensiv an der Herausforderung der Rohstoffweiterverarbeitung arbeitet, um das ändern zu können. Für Europa muss das Ziel eine strategische Autonomie sein, die ausreichend Handlungsspielraum lässt, wenn ein Glied in der Kette wegbricht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist es, bestehende Abhängigkeiten nicht einseitig werden zu lassen – während Europa bei Halbleitern auf Taiwan und andere asiatische Länder angewiesen ist, entstehen aus diesen H a l b l e i t e r n europäische Mikrochips, die für die grüne Transformation auf der ganzen Welt essenziell sind; Mikrochips, die auch in Österreich produziert werden.
Es war einst die technologische Innovationskraft, die Europa im 19. Jahrhundert eine stürmische Industrialisierung brachte und dem vergleichsweise rohstoffarmen Kontinent damit eine globale Führungsrolle sicherte. Das war der Anfang einer großen europäischen Erfolgsgeschichte, mittlerweile jedoch dominieren andere Länder das Rennen um die technologische Vorherrschaft – allen voran die USA und China. Angesichts geopolitischer Dynamiken, unsicherer Lieferketten und zentraler Herausforderungen wie der grünen und digitalen Transformation ist es höchste Zeit, die vorhandenen Stärken Europas in Forschung, Technologie und Innovation klar auszubauen. Dabei gilt es, Innovationen aus der Grundlagenforschung konsequent in global erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen umzuwandeln. „Die Schlüsseltechnologien der Zukunft sichern die technologische Souveränität und damit die Wettbewerbsfähigkeit Europas und Österreichs. Dabei sind die Forcierung der Zusammenarbeit in Ökosystemen aus Wissenschaft, Startups und Industrie sowie der Ausbau des Risikokapitalmarkts entscheidende Faktoren“, so die zentrale Botschaft der Content Session des Vereins zur Förderung von Forschung und Innovation (VFI) und der IV im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach.
In der Grundlagenforschung ist Europa bei anspruchsvollen Technologien wie Quantencomputing und der Krebsimmuntherapie gut aufgestellt, dann fehle es aber an Fachkräften und langfristiger Finanzierung zur Weiterentwicklung und Kommerzialisierung, waren sich die Diskutantinnen und Diskutanten einig. Gerade für forschungsintensive Innovationen im Deep-Tech-Bereich braucht es einen langen Atem bei der Finanzierung – ein Punkt, in dem andere Weltregionen besser sind. „Daher müssen wir in Österreich und Europa unsere Anstrengungen erhöhen und mutig investieren, um technologieintensive Innovationen rascher und zielgerichteter in den globalen Markt zu bringen. Wir brauchen hier langfristige Strategien und klare Zielbilder auf nationaler wie auf EU-Ebene“, betont IV-Generalsekretär Christoph Neumayer.
„Um unsere Leit- und Zukunftsbranchen zu stärken und auszubauen, müssen wir die Technologiepolitik auch europäisch denken, europäische Initiativen für Schlüsseltechnologien gezielt nutzen und dafür Weichen im nationalen Herbst-Budget stellen“, so IVPräsident Georg Knill bei einem Round Table zwischen Industrie und Politik anlässlich der Europe in the World Days in Alpbach. Das betrifft insbesondere europäische Initiativen wie den EU-Chips-Act, der F&E wie Investitionen umfasst, IPCEI und die Beteiligung an ESA-Wahlprogrammen. Ebenso müssen die FFG-Basisprogramme mit ihrer hohen Radarfunktion ausgebaut werden, um die erhöhte Nachfrage durch Transformationsprojekte zu decken. Auch braucht Österreich starke KI-Ökosysteme aus Wissenschaft und Wirtschaft, um die Potenziale zahlreicher Anwendungsfelder der künstlichen Intelligenz gezielt für den österreichischen Produktionsstandort zu nützen.
Für die Absicherung einer gewissen strategischen Autonomie und der Weiterentwicklung und Kommerzialisierung von Innovationen braucht Europa vor allem eines: qualifizierte Fachkräfte. Allein in Österreich fehlen beispielsweise 40.000 MINT-Talente, und in wenigen Jahren kommen nochmals knapp 60.000 offene Stellen allein in den Schlüsseltechnologien dazu. Da die Bevölkerung schrumpft und in ihrer Struktur älter wird, ist einer der Schlüssel in diesem Bereich Migration. Bisher taugt diese in Europa zwar, den demografischen Wandel auszugleichen, sie bietet aber nur in einzelnen Ländern Linderung für die angespannte Lage am Arbeitsmarkt. Grund dafür ist unter anderem das niedrige Bildungsniveau von Flüchtlingen. Ein Schlaglicht auf das Problem wirft der jährliche Integrationsbericht für Österreich, der im August wieder präsentiert wurde: 70 Prozent jener Flüchtlinge, die im Jahr 2022 den Status als Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigte erhielten und an einem Deutschkurs des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) teilgenommen haben, mussten einen Alphabetisierungskurs besuchen. Die Hälfte davon konnte nicht einmal in der eigenen Muttersprache lesen und schreiben. Auf Menschen mit guter Ausbildung üben Europa und Österreich eine geringere Anziehungskraft aus.
Die Probleme sind bekannt; sei es die Anerkennung ausländischer Ausbildungsabschlüsse, die lange Genehmigungsdauer, die Notwendigkeit sprachlicher Nachweise, auch für Berufe, in denen Englisch gesprochen wird, oder die hohe steuerliche Belastung des Faktors Arbeit und die damit einhergehenden im internationalen Vergleich niedrigeren Nettolöhne. Im Rennen um internationale Fachkräfte in Wirtschaft und Wissenschaft geht es nicht nur um das Thema „EU gegen den Rest der Welt“ – auch innerhalb Europas verschärft sich der Wettbewerb und die Voraussetzungen sind ungleich verteilt. Der OECD-Index „Indicators of Talent Attractiveness“ umfasst verschiedene Faktoren, die für qualifizierte Migranten bedeutsam sind, und zeigt, dass Österreich vergleichsweise wenig attraktiv ist: Im Ranking landet Österreich auf Platz 26 von 38 Industrieländern. Angeführt wird die Liste von Neuseeland, Schweden und der Schweiz; Deutschland landet auf Platz 15. Gründe für das schlechte Abschneiden Österreichs sind laut Auswertung vor allem die hohe Ablehnungsquote von Visaanträgen, die eher geringe gesellschaftliche Akzeptanz bzw. die häufige Beschäftigung unter dem Qualifikationsniveau von Migrantinnen und Migranten und die hohe Steuerbelastung des Faktors Arbeit. Laut Experten wird allein in Österreich in den nächsten zehn bis zwölf Jahren eine Lücke von rund 540.000 Erwerbstätigen entstehen. „Ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir den Arbeitskräfteund Fachkräftemangel schon alleine wegen der Demografie nicht in den Griff bekommen. Es braucht rasch eine politische Strategie und einen gesellschaftlichen Konsens, qualifizierte Arbeitskräfte aktiv anzuwerben und sie dauerhaft in Österreich zu integrieren“, sagt IV-Generalsekretär Christoph Neumayer.