„Wien als Standort gefragt"

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Mag. Martin Amor

Mediensprecher und Experte, Industriellenvereinigung Wien

Mag. Martin Amor

Mediensprecher und Experte, Industriellenvereinigung Wien

Anlässlich der Vollversammlung sprachen die IV-Positionen mit Wiens BürgermeisterMichael Ludwig über aktuelle standortpolitische Herausforderungen

Wir erleben gegenwärtig mehrere nationale und internationale Krisen gleichzeitig. Was sind daraus aus Ihrer Sicht die Implikationen und standortpolitischen Herausforderungen für Wien?

Unser Grundsatz ist: Förderungen sollen den Wiener Unternehmen in guten, aber auch in schwierigen Zeiten helfen. Und in
solchen befinden wir uns gerade jetzt. In den letzten zehn Jahren wurden rund 400 Millionen Euro an Förderungen ausgeschüttet. Damit wurden über 20.000 Arbeitsplätze in Wien gesichert und 1,7 Milliarden Euroan Investitionen in der Stadt ausgelöst. Wir unterstützen gezielt Hochschulen, Unternehmen und Start-ups und initiieren kooperative Innovationsprojekte. Das alles macht Wien als Standort gefragt: 2021 haben sich trotz der Corona-Krise 225 ausländische Unternehmen neu in Wien angesiedelt und dabei insgesamt 2.673 neue Arbeitsplätze geschaffen. Und was die Zukunft angeht, so konzentrieren wir uns im Rahmen unserer Strategie „WIEN 2030“ auf jene Themen, wo die Stadt bereits stark ist: von smarten Lösungen für den städtischen Lebensraum des 21. Jahrhunderts über die Gesundheitsmetropole. Wien bis hin zur Digitalisierung.

Wien will mit der Geothermie in Zukunft auf eine weitere alternative Energiequelle setzen. Müssten für die dringend notwendige Realisierung dieser Vision sowie insgesamt für den Ausbau der Erneuerbaren nicht die Genehmigungsverfahren
massiv beschleunigt werden?

Da ist der Bund am Zug. Wir sind generell damit konfrontiert, dass dem Ausbau alternativer Energien veraltete Bundesgesetze und viel zu lange Verfahren im Weg stehen. Beispielweise ist die Aufsuchung, Gewinnung und Speicherung geothermischer Energie in mehrere Gesetze zersplittert. Wir fordern daher eine Gleichstellung von Heißwasservorkommen
sowie von Öl und Gas. Durch diese unnötigen Hürden sind aktuell 95 Prozent des Potenzials der tiefen Geothermie in Österreich ungenutzt. Auch die Umweltverträglichkeitsprüfungen müssen beschleunigt werden. Städte werden gerade auch in Zeiten der Digitalisierung immer wichtiger, vor allem für die innovationsstimulierende Vernetzung von Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft.

Wie ist Wien hier im innereuropäischen Vergleich aufgestellt?

Gerade in den Bereichen Smart City, Digitalisierung und Life Sciences ist Wien auch im europäischen Vergleich ein Vorreiter.
Wiener Unternehmen und Hochschulen entwickeln gemeinsam mit der Stadt technologische und gesellschaftliche Lösungen
für eine hohe urbane Lebensqualität, die klimatauglich und leistbar ist. So ist Wien ein Ort, an dem Grundlagen in Schlüsseltechnologien für die Informationsverarbeitung und die Kommunikation der Zukunft geschaffen werden – wie zum Beispiel künstliche Intelligenz, Visual Computing und Quantentechnologien.

Wien hat wie ganz Österreich einen Fachkräftemangel. Was muss getan werden, um hier Abhilfe zu schaffen?

Dieser lässt sich überwinden, indem wir zuallererst in beste Bildung, Weiterbildung und Kinderbetreuungsangebote investieren. Letzteres verhindert, dass Frauen weiter in Teilzeit gedrängt werden. Darüber hinaus brauchen wir mehr Ausbildungsplätze für zukünftige FacharbeiterInnen sowie eine klare Aufwertung und mehr Wertschätzung der Lehre. Das Problem des Fachkräftemangels muss also aktiv vom Staat angegangen werden. Der Schlüssel für eine Lösung liegt in der beruflichen Weiterbildung bzw. Umschulung. 

Die Coronazeit war in Wien vor allem auch von vielen Demonstrationen geprägt – marschiert sind hier aber nicht nur Corona-
Leugner, sondern zunehmend auch deklarierte Gegner demokratischer Strukturen. Wie können westliche Demokratien wieder mehr Zustimmung von der Bevölkerung bekommen? Welche Rolle spielt hier auch die Europäische Union? Wo entwickelt sich die EU hin?

Die Pandemie war nur ein Aufhänger. Viele von denen, die da protestiert haben und es noch immer tun, lehnen unser demokratisches System grundsätzlich ab und sie wollen das offensiv ausdrücken. Die Pandemie hat ihnen die Sache insofern erleichtert, weil da Gruppen zusammengefunden haben, die unter anderen Umständen keinen gemeinsamen Nenner
hätten. Das lässt diese antidemokratische Bewegung auch stärker aussehen, als sie in Wirklichkeit ist. Unsere Aufgabe wird es weiter sein, so viele Menschen wie möglich zurückzugewinnen und den Unbeirrbaren klare Grenzen aufzuzeigen. Generell
müssen wir zurück zu einer Politik, die das große Ganze im Auge hat. Eine solche Politik verbindet, stärkt den sozialen Zusammenhalt und schafft Vertrauen. Das ist die wichtigste Währung in Krisenzeiten und wird dazu beitragen, dass die Zustimmung zur Politik wieder steigt. In diesem Zusammenhang spielt auch die EU eine wichtige Rolle: gleich ob Corona, Digitalisierung oder Klimawandel. Das alles wird Europa nur als gestärkte Einheit bewältigen können. Die EU ist nun einmal das größte Friedensprojekt in der Geschichte unseres Kontinents. Und so tragisch der Ukrainekrieg ist, er hat uns auch gezeigt, wie wichtig und unverzichtbar die EU letztlich ist.


Foto: Michael Königshofer

Bürgermeister Michael Ludwig