Das Fundament unseres Wohlstands bröckelt!

Die Entwicklung auf den Energiemärkten, insbesondere bei Strom und Gas, wird zur extremen Belastungsprobe. Ohne sichere und leistbare Energie droht das industrielle Rückgrat Europas zu brechen.

Europas Energiemärkte spielen verrückt. Der Westen seufzt, Putin freut’s – ist dies doch die stärkste Waffe in seiner Hand.
Mangelnde Planbarkeit ist aber Gift für die Industrie. Und dass sich Dinge, sozusagen über Nacht und vollkommen überraschend, radikal anders darstellen können, mussten wir gerade in Wien kürzlich miterleben. 


So dynamisch und erratisch auch die derzeitige Situation ist – allein die Ankündigung der EU Ende August, man wolle aktiv gegen die vollkommen verrückten Strompreissteigerungen auf den Märkten vorgehen, hat zu einem vorübergehend markanten Absinken der Preise geführt – so eindeutig sind aber auch die wirtschaftlichen Folgen der Energieengpässe: der Euro im 20-Jahrestief, Kostenexplosion allerorten und eine drohende Rezession.


Verständlich sind die Rufe nach kurzfristigen Maßnahmen wie Strompreisbremsen, Entlastungspaketen, Schutzschirmen und
Übergewinnsteuern. Diese bringen aber leider keine strukturelle Lösung des Problems, sondern lenken von diesem sogar ab:
Wie erzielen wir bei steigendem Energiekonsum Versorgungssicherheit und globale Preiswettbewerbsfähigkeit – und das bei
gleichzeitiger Dekarbonisierung?


Zu selbstverständlich schien der Zugang zu leistbarer Energie in Europa. Seit der industriellen Revolution eine der wichtigsten
Grundlagen des Wohlstandes unserer modernen Gesellschaft. Von der schmutzigen Kohle, einst das Fundament der industriellen Erfolgsgeschichte Europas, sind wir zum Glück weitgehend abgekommen. Die nächste, viel radikalere Trans-formation in Richtung erneuerbarer Energie (37,5 Prozent des EU-Brutto-Stromverbrauchs 2020, Eurostat), steht aber noch an.


Die derzeitige Situation sollte für alle ein Weckruf sein, wie schnell fundamentale Grundlagen unseres Wohlstandes in Gefahr
kommen können, wenn wir nicht strategisch agieren. Global aufgestellte Unternehmen wussten schon vor der aktuellen
Multikrise, dass Europa nicht an der Spitze war, wenn es um die Bereitstellung von Energie auf kompetitivem Preisniveau ging. Aktuell ist der Unterschied zu anderen Regionen jedoch haarsträubend. Langfristig kann kein noch so innovatives europäisches Unternehmen diesen Preisdruck unbeschadet überstehen – vor allem wenn es Konkurrenten gibt, die eben nicht in Europa produzieren.


Europa läuft Gefahr, zu einem Hochrisikostandort im Energiebereich zu werden, was einen generellen Wettbewerbsnachteil für unsere Industrie bedeuten würde. Gelingt hier keine Wende, kann die EU getrost jegliche Ambitionen einer zukunfts-fähigen Industriestrategie ad acta legen. Wir brauchen einen konkreten Kurz-, Mittel- und Langfristplan ohne Denkverbote und wishful thinking. Andere Länder wie Schweden oder die Schweiz machen es uns vor. In der Schweiz etwa spielt neben dem zentralen Argument der „bezahlbaren Energie“ auch das Thema Modernisierung der Energieinfrastruktur eine wesentliche Rolle. So sollen hier vor allem notwendige Genehmigungsverfahren massiv beschleunigt werden. Etwas Vergleichbares wie die Schweizer „Energiestrategie 2050“ brauchen wir auch in Österreich – samt Bekenntnis zu schnelleren Verfahren zur Errichtung der erforderlichen Infrastruktur, aber auch dem Bekenntnis zur Sicherstellung leistbarer Energie. Das ist das zentrale Ziel! Es muss einfach klarer werden, was, wann, wo gemacht werden muss, um festgelegte Ziele auch realistisch umsetzen zu können. 


Seitens der Industrie wurde immer betont, dass man bei der Transformation der Energiesysteme unbedingt im globalen Gleichklang vorgehen muss, zumindest jedoch im Gleichklang mit unseren unmittelbaren Mitbewerbern. Ansonsten steht Europa am Ende vielleicht als vorbildlicher „Klima-Saubermann“ da – hat aber gleichzeitig den wirtschaftlichen Sockel, auf dem unser gesellschaftliches Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft aufbaut, zerstört.


Innovation und Technologie werden vielleicht in der Zukunft radikal neue Lösungen bringen, sei es im Bereich des grünen Wasserstoffes, der Kernfusion oder etwa auch, wie vor kurzem von der ESA präsentiert, durch Energiegewinnung im Welt-raum. Aber viele dieser Lösungsvorschläge sind noch Zukunftsmusik. Bis dahin müssen wir auf alles setzen, was wir wirklich zur Verfügung haben. Was neben der Bereitstellung von Energie auch deren möglichst effizienten Einsatz umfasst.


Vor allem müssen wir selbst mehr Energie, insbesondere mehr Strom lokal produziere – wer abhängig ist, bleibt erpressbar! Und dabei sollten wir, und das betrifft unser schönes, aber technologieskeptisches Land besonders, keine Denkverbote und Tabus zulassen. Windräder, Solar, Biomasse, Geothermie, Pumpspeicher, Wasserkraf – besonders, wenn auch lokal geschlossene Lösungen gelingen, um das allgemeine Stromnetz zu entlasten. Aber das wird nicht reichen. Dass wir in Österreich aktuell sogar Kohle wieder in Betracht ziehen müssen, zeigt ja symptomatisch, wie groß die Herausforderung ist.


Das führt mich zu der in Österreich sehr schwierigen Diskussion um die Kernenergie. Bei allem Verständnis für die Ablehnung
derselben, Tatsache ist: In Europa spielt Atomstrom mit einem Anteil von 25 Prozent (2020, Eurostat) als stabile, CO2-
freie Grundenergie eine Rolle, und natürlich importiert auch Österreich derzeit Atomstrom. Die Produktion desselben sicherer
zu machen, ist in unser aller Interesse. Von möglichen Weiterentwicklungen in diesem Bereich ganz zu schweigen – zumindest sollte man an diesen Themen auch bei uns aktiv Forschung und Entwicklung betreiben können.


Einmal mehr ist derzeit offensichtlich, dass Österreich keine Insel der Seligen ist, nicht sein kann. Wir sind, ob wir wollen oder
nicht, in einer Schicksalsgemeinschaft mit dem Rest unseres Kontinents. Allein wird es nicht gehen. Und ohne auch unangenehme Entscheidungen zu treffen, ebenfalls nicht. Diese Krise stellt eine Zeitenwende dar und könnte der Katalysator für eine neue, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Energiepolitik sein. Jede Krise ist dann eine Chance, wenn entschlossen die richtigen Schritte gesetzt werden.


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