Das Ende der österreichischen Gemütlichkeit

Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, hat man es in Österreich verabsäumt, strukturelle Reformen voranzutreiben und –strategisch und systematisch durchdacht – den Staat für die Zukunft fit zu machen. Das Versäumte nun nachzuholen,wäre dringend geboten – und könnte für die Bundesregierung eine große Chance sein.

Es gab Zeiten, da mutete sich Österreich noch zu, den Staat in seinen Grundfesten zu überdenken, neu zu gestalten und im
Interesse aller von Grund auf zu reformieren. Der Österreich-Konvent zur Staats- und Verwaltungsreform fand vor nunmehr
17 (!) Jahren statt. Er ist in Vergessenheit geraten. Überhaupt glänzte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten keine
Bundesregierung mit wirklichen, also systemischen und strategisch durchdachten Reformanstrengungen. Egal, ob eben bei
der Staatsverwaltung, dem Föderalismus, im Gesundheitswesen, bei den Pensionen, im Bildungssystem… Die Liste ließe sich
noch länger fortführen. Immer wieder gab und gibt es Aufrufe oder gar Warnungen nationaler und internationaler Experten zu
den verschiedensten Themen. Der Tenor war und ist immer derselbe: Österreich kann und muss in vielen Bereichen auf
der Ausgabenseite effizienter werden, die sozialen Systeme generationengerechter sowie die Staatsfinanzen insgesamt nachhaltiger gestalten.


Passiert ist aber wenig, hie und da ein Reförmchen vielleicht. Anlassbezogen, oder vielleicht auch, weil gerade irgendein
Wahlkampf war. Systematisch durchdachte Reformen waren aber nie Thema. Was man einerseits auch als positives Zeichen
interpretieren könnte: Uns ging es sehr lange einfach auch sehr gut. Trotz massiver Staatsverschuldung hat etwa die wachsende österreichische Wirtschaft auch für sprudelnde Steuereinnahmen gesorgt. Warum sollte man also große Reformanstrengungen unternehmen, wenn, gemäß der typisch österreichischen Gemütlichkeit, „eh noch alles passt“? In den vergangenen Jahren begann sich aber doch bei einigen ein gewisses Unwohlsein zu regen. Versuche, ein nachhaltiges Budget vorzulegen, gar Überschüsse zu erzielen, waren ja geradezu eine radikale Abkehr von der lieb gewonnenen, österreichischen Tradition des Schuldenmachens (fröhlich befeuert von der Nullzins-Politik der EZB).


In der politischen Landschaft war aber eine gewisse Sorge durchaus spürbar – allein der Veränderungsdruck war wohl zu gering. Die Multikrisen Pandemie und ihre Folgen, grassierende Inflation sowie Krieg in der Ukraine decken nun schonungslos
auf, in wie vielen Bereichen wir eigentlich dringenden Handlungsbedarf haben. Und wir müssen realisieren, dass in manchen
Politikfeldern selbst rasches Handeln wenig bringen würde, da die Grundlagen fehlen. So war an dieser Stelle zuletzt von
der Energiewende die Rede – wie kann diese gelingen, wenn doch zuerst einmal die entsprechende Infrastruktur gebaut
werden müsste, damit Strom aus erneuerbaren Quellen überhaupt verteilt und auch gespeichert werden kann?


In der aktuellen Situation ist es eigentlich ohne Alternative, den Blick ideologiefrei und mutig auf die vielen Baustellen in unserem Land zu richten. Die Politik wirkt bislang allerdings wie gelähmt – angesichts der Vielzahl an Herausforderungen menschlich durchaus verständlich. Dabei bietet diese Situation gerade dieser Regierung eine große Chance! Eine Bundesregierung, die in diesen wohl größten Krisen der neueren Zeit mutig und entschlossen daran geht, den Staat und seine Systeme von Grund auf neu zu denken, um den Wohlstand unserer Gesellschaft zu bewahren, wird sich mit Sicherheit viel Zustimmung seitens der Menschen erarbeiten.


Dieser Bundesregierung wird aktuell von manchen vorgeworfen, sie habe eigentlich keine wirkliche Vision mehr davon,
wohin sie Österreich führen wolle. Es werde mehr schlecht als recht verwaltet, aber nicht mehr gestaltet. Es ist mit Sicherheit
richtig und wichtig, dass wir (denn gefordert ist keineswegs nur die Regierung) vom Reagieren auf Krisen zum Agieren kommen
müssen, zum aktiven Gestalten.


Die österreichische Gemütlichkeit auf der vielzitierten „Insel der Seligen“ geht sich nicht mehr aus, das Erwachen war unangenehm, aber auch unausweichlich. Bereits jetzt ist klar, dass wir in den kommenden Jahren weitere weltweite Verwerfungen des globalen Wirtschaftssystems erleben werden. Es ist fraglich, ob wir unser aktuelles Wohlstandsniveau langfristig halten können.


Wann also, wenn nicht jetzt, muss die Politik sich hier als das beweisen, was sie ursprünglich auch sein sollte: als Hüterin des Gemeinwesens und Dienerin ihrer Bürger. Für Österreich bedeutet dies im Speziellen, dass wir jetzt jene Reformen nachholen
werden müssen, die wir unter vielen vorangegangenen Bundesregierungen immer wieder haben liegen lassen. Gemütlich
wird das sicher nicht, es könnte sogar schmerzhaft werden. Andere Länder wie etwa Schweden oder Finnland haben weitsichtig solche Prozesse bereits in der Vergangenheit durchlaufen. Aber genau die Erfahrung dieser Länder zeigt auch, dass
solche grundlegenden Anstrengungen, wenn sie entsprechend klug und strategisch angegangen werden, am Ende nicht
nur das Land krisenresistenter, sondern auch den Standort Österreich zukunftsfit machen werden. Im Rückblick könnte diese
Bundesregierung damit als jene in die Geschichte eingehen, die die österreichische Gemütlichkeit durchbrochen hat und
zum Wohle aller diese historische Zeitenwende meistern konnte.


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